Körperlichkeit, Verletzlichkeit, Heilung – die Künstlerin Ying Xu denkt über die menschliche Existenz nach und erschafft dafür feinfühlige Metaphern. Bis am 6. Oktober 2024 stellt sie zusammen mit Andreas Hofer und Haviva Jacobson in der Kunsthalle Vebikus in Schaffhausen aus (deren Werke übrigens auch sehr sehenswert sind!).
Ying Xu wurde 1975 in Shanghai geboren, wuchs in Peking auf und genoss eine umfassende künstlerische Ausbildung sowohl in chinesischer wie auch in westlicher Tradition. Beeinflusst durch die Malerei der Renaissance, schuf sie danach Alltagsszenen und Porträts. 2001 brach sie aus, suchte neue Ausdrucksformen. 2011 zog sie mit ihrem Mann, einem gebürtigen Schaffhauser, und den beiden Kindern in die Schweiz. Die völlig andere Kultur, Natur und Sprache verlangten erneut eine künstlerische Veränderung. Heute scheint Ying Xus Werk weit weg zu sein von allen Traditionen.
Ying Xu begann mit Blumen zu arbeiten, einem Symbol für die Weiblichkeit und deren vergänglichen Schönheit und Verletzlichkeit. Sie flickte die halb verblühten, fast losen Blütenblätter mit groben Stichen zusammen. Die Ergebnisse sind wunderschön, aber auch schmerzlich irritierend. Weil sie sich nicht auf den weiblichen Teil der Menschheit beschränken wollte, arbeitet sie heute auch mit Früchten. Diese Körper – weitere Formen des Lebens – sind in sich geschlossen, das Innen ist vom Aussen deutlich getrennt. Mit ihren Flickwerken philosophiert Ying Xu auch über die Zeit und die Art, wie wir damit umgehen. Wir können die Vergänglichkeit nicht stoppen, nur beobachten und akzeptieren. Das Leben geht immer weiter.
Orangen und roter FadenIn der Vebikus Kunsthalle liegen abgeschälte Orangenhäute auf einem langen, mit einem weissen Tischtuch bedeckten Tisch. Ying Xu hat sie mit rotem Faden zusammengeflickt. Die ehemalige Kugelform ist repariert, allerdings in einer unvollkommenen Weise. Der Inhalt ist verschwunden, lediglich das Äussere ist noch da. Als Ying Xu die Orangen kaufte, glichen sie sich wie Babys nach der Geburt. Nun trocknen und schrumpfen die Häute individuell, jede auf ihre Art – wie auch die menschlichen Körper unterschiedlich altern. Ein Video zeigt, wie die Künstlerin sorgfältig und meditativ Stich an Stich setzt. Jeder Einstich mit der Nadel ist Verletzung und Heilung zugleich: Jede gute Tat kann auch negative Auswirkungen haben, die wir nicht planten, aber in Kauf nehmen müssen.
Ein Spiegel ist an die Wand montiert, in den Ying Xu als Symbol für Intimität einen Bauchnabel gemalt hat. Eine Nabelschau? Jeden Tag beobachten wir im Spiegel, wie wir uns alternd verändern. Auch dieses Werk zeigt die Vergänglichkeit, dazu aber auch die Art und Weise, wie wir uns selber sehen. Daneben hängt eine Reihe Küchentücher. Auf eines hat die Künstlerin einen weiblichen Oberkörper gemalt, die Brüste verletzlich entblösst. Die Tücher der Serie «Kitchen Stories» verweisen auf die weibliche Arbeit, die jeden Tag von Tausenden von Frauen selbstverständlich und sisyphusartig vollbracht wird.
Ebenso den Blicken des Publikums ausgesetzt ist der nackte Oberkörper einer jungen Frau auf einem kleinen, gemalten Bild. Der hochgeschlossene Kragen, den sie einzig trägt, irritiert und erinnert an jene Zeiten, in denen Frauen ihren Körper bis zum Hals bedecken mussten. Die Gesellschaft nahm ihnen die Freiheit. Hier liegt der Körper bloss, doch der Atem ist mit dem Kragen und einem roten Faden abgeschnürt. In der roten Schnur sieht Ying Xiuein Symbol für das Schicksal. Rot ist die Farbe des Blutes, der Gewalt, der Liebe.
Einmal lagen in Ying Xu’s Studio nach der Stickarbeit verschieden Fadenenden am Boden. Schon wollte die Künstlerin den Besen holen, als sie plötzlich die Schönheit dieser Garnstücke wahrnahm und innehielt. Zeichnerisch festgehalten, erzählen die roten Fadenenden unzählige Geschichten über Lebenswege, Beziehungen und vieles mehr. Sie und ihre Schattenwürfe geben der Imagination Raum. So wenig, fast nichts, enthält so vieles … Zu Beginn ihrer Laufbahn malte Ying Xu in perfekter Genauigkeit. Nun ist sie freier geworden, lässt die roten Fäden als Metapher für die Unfertigkeit und Unvollkommenheit der Welt einfach hängen. «Let nature do its work», sagt sie und lässt den Fruchthäuten ihren alternden Verlauf.
Text: Christine Läubli
Fotos: Ying Xu
Information:
Vebikus Kunsthalle Schaffhausen
17. August – 6. Oktober 2024
Ying Xu: Die Natur der Existenz
Parallelausstellungen: Andreas Hofer: nebenan / Haviva Jacobson: Fliessen
Kulturzentrum Kammgarn
Baumgartenstrasse 19
8201 Schaffhausen
Öffnungszeiten: Donnerstag 18-20 Uhr, Freitag 16-18 Uhr, Samstag / Sonntag 12-16 Uhr
Rahmenprogramm:
Donnerstag, 12. September, 18.30 Uhr: Führung in chinesischer Sprache, englische Inputs mit Ying Xu
Samstag, 14. September 17 – 24 Uhr: Museumsnacht Schaffhausen,
19.30 und 21 Uhr: Führung durch die Ausstellung mit Kurator:innen und den Kunstschaffenden
20 – 21 Uhr: Flicklabor zum Mitmachen mit Ying Xu
Sonntag, 6. Oktober: Künstler:innengespräch, Moderation: Sabine Arlitt
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