top of page

Leichter als Luft

 

Seidenschals von Michiko Uehara
Seidenschals von Michiko Uehara

Die Fondation Baur in Genf zeigte vom 30. Oktober bis 2. Februar 2025 in der Ausstellung «Plus léger que l'air – le vol de la libellule» hauchzarte Gewebe. Bea Bernasconi hat sie sich angesehen und erzählt: Schon lange hatte ich die Ausstellung in der Stiftung Baur in Genf im Blick, doch erst kurz vor ihrem Ende schaffte ich es dorthin – nicht gerade ein Katzensprung von Lugano aus.

Die Fotografien sind leider von mäßiger Qualität, da die Ausstellung nahezu im Dunkeln stattfand. Nur die Kunstwerke selbst wurden beleuchtet, um ihre Leichtigkeit und Transparenz besonders hervorzuheben.



Evening glow; For a Soiré, Doppelgewebe
Evening glow; For a Soiré, Doppelgewebe

Michiko Uehara stammt aus Okinawa, dem südlichsten Archipel Japans, das ein einzigartiges Klima besitzt und eine jahrhundertealte Textiltradition bewahrt. Hier entstehen Stoffe, die so fein sind wie Libellenflügel oder ein Spinnennetz – das nennt Michiko Uehara „gewebte Luft“. Sie schuf einen Seidenstoff aus einem Faden von nur 3 Denier. Diese Fäden sind so zart, dass sie in der Hand kaum spürbar sind, was beinahe an ihrer Existenz zweifeln lässt.

Ueharas künstlerische Reise begann in Tokio, wo sie durch einen Besuch im Japanischen Volkskunstmuseum eine völlig neue Perspektive gewann. 1971 begann sie unter der Anleitung von Yoshihiro Yanagi mit dem Weben. Drei Jahre später kehrte sie nach Okinawa zurück. Die Entdeckung historischer Textilien des Ryūkyū-Archipels entfachte ihre Leidenschaft für die Bewahrung und Wiederbelebung traditioneller Techniken wie Ikat und Tatewaku. Seit der Eröffnung ihres Ateliers 1979 hat sie an zahlreichen Ausstellungen in Japan teilgenommen.

 


Seiden-Kokons
Seiden-Kokons

Vielleicht kennen nicht alle den Prozess der Seidengewinnung, daher hier eine kurze Erläuterung: Die Larven des Seidenspinners werden in einer kontrollierten Umgebung mit frischen Maulbeerblättern gefüttert. Innerhalb von 25 bis 30 Tagen wachsen sie auf das bis zu 10.000-fache ihrer ursprünglichen Größe an. Nach etwa einem Monat spinnen sie aus einem einzigen langen Faden ihren Kokon. Bevor die Raupen schlüpfen, werden die Kokons gesammelt und in heißem (60-80 °C) Wasser abgekocht, um das Sericin (einen natürlichen Klebstoff) zu lösen und die Fäden behutsam abzuwickeln. Ein einzelner Kokon enthält zwischen 300 und 900 Meter Seidenfaden. Die Maßeinheit Denier (abgekürzt DEN) ist den meisten wohl durch Strümpfe bekannt. Sie gibt das Gewicht in Gramm pro 9000 Meter Faser an. Zum Vergleich: Ein europäisches Frauenhaar hat durchschnittlich 60 Denier.


  

Heaven Touch
Heaven Touch

Michiko Uehara gilt als Meisterin ihres Handwerks und strebt nach Leichtigkeit, Transparenz und Transzendenz. Ihre Stoffe sind so fein und durchscheinend, dass sie beinahe immateriell wirken. Sie reduziert das Material auf ein absolutes Minimum, bis nur noch eine kaum sichtbare Essenz bleibt. Ihr Ziel ist es, die Grenze zwischen Wahrnehmbarkeit und Nichtwahrnehmbarkeit auszuloten. Über Jahre hinweg verfeinerte sie ihre Technik und selektierte Seidenkokons, deren Raupen besonders feine Fäden produzieren. Ursprünglich webte sie mit einzelnen Fäden von 27 Denier – eine Herausforderung, da üblicherweise 7 bis 8 solcher Fäden zusammengedreht und dann verwebt werden, um Stoffe für Kimonos herzustellen.

 








 

Ikat Motiv
Ikat Motiv

Fasziniert von der Schönheit des Materials begann Michiko Uehara, in ihrem Atelier eigene Fäden herzustellen. Dafür bezog sie von einer Seidenraupenzucht in der Präfektur Gunma junge Raupen, die gerade im Frühling geschlüpft waren. Diese Arbeit ließ sie die Vielfalt der Fadenstrukturen noch intensiver wahrnehmen, so dass sie eine Sammlung seltener, besonders feiner Fäden anlegen konnte. Schließlich gelang es ihr, mit Fäden von nur 3 Denier zu weben – eine fast übermenschliche Leistung, denn diese Fäden sind dünner als Spinnenseide und für das bloße Auge unsichtbar.

 

 











Three Dernier White (Kopie aus dem Ausstellungskatalog)
Three Dernier White (Kopie aus dem Ausstellungskatalog)

2006 vollbrachte sie ihr Meisterwerk: Nach fast 20 Jahren Forschung und Entwicklung fertigte sie einen Seidenstoff von 40 Zentimetern Breite und 3,5 Metern Länge – mit einem Gesamtgewicht von nur 3 Gramm. Die Kett- und Schussfäden, eigens von einer Seidenraupenzucht in Gunma produziert, bestanden aus einzelnen Fäden von lediglich 3 Denier, das heisst ein Faden war nur 0,08mm «dick»! Die Widerstandsfähigkeit und Ausdauer, die Uehara für dieses Projekt aufbrachte, war enorm. Drei Monate lang kämpfte sie mit den Herausforderungen dieses ambitionierten Vorhabens, bis sie den fertigen Stoff endlich vom Webstuhl lösen konnte.

 

 

Coral Blue (©Fondation Baur)
Coral Blue (©Fondation Baur)

Die Leuchtkraft ihrer Werke, insbesondere die durchscheinenden Blautöne, reflektieren die Küstenlandschaft Okinawas und zeigen, wie tief Michiko Ueharas Umgebung ihre Kunst prägt. Durch ihre Stoffe zelebriert sie nicht nur die Schönheit ihrer Heimatinsel, sondern auch die Widerstandskraft und zeitlose Seele der traditionellen Textilkunst.

Michiko Ueharas Arbeit ist ein poetischer Dialog zwischen Material und Licht – eine fragile, vergängliche Würdigung an die Natur: „Ich bin so weit gegangen, Materie zu reduzieren, so nah an Null wie möglich – und doch scheint aus diesem fast Nichts etwas hervorzutreten.“

 








Text und Fotos 1-5: Bea Bernasconi


Fondation Baur

30. October 2024 – 2. Februar 2025

29 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comentarios


bottom of page