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Blut & Staub


Musterstück, Störhaut aus der Störzucht für die Kaviarproduktion des Tropenhauses Frutigen. Sabine Brägger und Gerberei Zeller. Seit 2013 in Produktion, basierend auf der Bachelorarbeit BA Textildesign HSLU. Foto: Christine Läubli

Unsere Vorfahren verwendeten bei der Produktion eines Gegenstandes oder Lebensmittels möglichst sämtliche Ausgangsstoffe und verarbeiteten auch die entstandenen «Abfälle» weiter. Dies ging in unserer Überflussgesellschaft weitgehend vergessen, denn lange Zeit war es billiger, Resten einfach wegzuwerfen. Inzwischen merken wir aber, wie falsch dies gerade in Bezug auf unsere Umwelt ist, und dass Abfälle mehr Wertschätzung verdient haben.






Verarbeitungsstudie Hühnerfussleder. Detail eines Musterstückes. Géraldine Heller und Meret Wacker 2018. Hühnerbeinleder vernäht. Seminararbeit im Studiengang BA Industrie Design FHNW. Foto: Christine Läubli

Natürlich ist es auch für die Kunst interessant, Recycling in die Arbeit einzubeziehen, innovative Lösungen zu erforschen und damit zu einer ungewohnten, neuen Ästhetik und Aussage zu gelangen. Die Industrie interessiert sich für die gleiche Thematik, um der immensen Verschwendung Einhalt zu gebieten und Ressourcen zu sparen. Zurzeit ist im Gewerbemuseum Winterthur eine Ausstellung zu sehen, die der Frage nachgeht, wie aus Reststoffen Werkstoffe werden. In sieben Themenbereichen begegnet man überraschenden Ideen. Jene aus dem textilen Bereich beziehen sich auf die Ausgangsmaterialien Fasern bzw. Alttextil oder sie erzielen ein stoffartiges Endprodukt.



Hembury Side Table, seit 2013. Solidwool, UK. Schafwolle und teilbiobasiertes Epoxidharz, als Komposit verklebt. In Produktion. Foto: Hans Schürmann

Ein riesiger Teppich begrüsst die Besucher. Niemand würde denken, dass er zu 50 % aus wollenen Altkleider-Wintermänteln und -Pullovern hergestellt wurde. Andere Produkte stammen aus der Wolle direkt vom Schaf. Von den 850'000 Kilogramm Wolle, die in der Schweiz jedes Jahr anfallen, verarbeitet man 80 Prozent zu Dämmstoffen und Bettwaren. Der Rest wird weggeworfen. Dabei könnte man daraus unter Beifügung eines stabilisierenden Bindemittels etwas so Überraschendes wie einen Beistelltisch machen …











Ventri, 2017. Studio Billie van Katwijk, NL. Tasche aus Kuhmagenleder. In Produktion. Foto: Hans Schürmann

Verschiedenste Tierabfälle lassen sich zu einzigartigen Lederarten verarbeiten – so zum Beispiel die Füsse der mehr als 55,9 Millionen Hühner, die in der Schweiz pro Jahr geschlachtet werden. Oder Kuhmägen, die heute nur noch selten gegessen werden; ihre Bestandteile mutieren zu verschiedenartigen Lederstrukturen. Ein anderes Leder kommt aus dem Tropenhaus Frutigen. Es nutzt das Warmwasser für eine Zucht von Störfischen, die der Produktion von Kaviar dienen. Dabei bleibt eine grosse Menge Fischhäute übrig.




Plastic Blood I, Relief, 2024. Vanessa Billy, CH, Leonor Kotoun, CH. Albumin aus Tierblut, Gelatine, Glycerin. Kleinauflage. Foto: Hans Schürmann

Schon die Hühnerfüsse lösten vielleicht gemischte Gefühle aus. Leichten Ekel befällt gar, wer die Experimente von Leonor Katoun betrachtet. Sie entwickelte eine Methode, aus Schweineblut vom Schlachthof Häute herzustellen, deren Strukturen dann aber doch wieder faszinieren. Sie können für die Beschichtung von Textilien oder als Verbundwerkstoff eingesetzt werden.




Pullover. Forschungsprojekt HSLU Luzern. Texaid, Nikin, 2020 – 2022. Alte Jeans zu Reissfasern verarbeitet, mit 20 % Anteil Neubaumwolle versponnen. Prototyp. Foto: Christine Läubli

In Kooperation mit Schweizer Firmen erforscht die Hochschule Luzern, wie alte Kleider für neue Textilien genutzt werden können. Damit sucht man der immensen Verschwendung jener Altkleider zu begegnen, die unwiederbringlich aus dem Kreislauf der Wiederverwertung verschwinden. Die Polyesterfüllung einer Weste entstand, indem Altbettwaren durch eine neuartige Ozon-Technologie gereinigt und mit Neufasern aus PET angereichert wurden. Socken bestehen aus alten T-Shirts, die man zu Reissfasern verarbeitete und mit Modal vermischte. Ein Pullover wurde aus alten Jeans hergestellt.







Shards, DE (Lea Schücking). Fliesen aus Bauschutt und Altglas. © Shards

Ob Besteck aus Biokompost, Kaffeebecher aus Holzfasern oder Fliesen aus Altglas und Bauschutt … Die Sonderpräsentation zeigt die wertschätzende Nutzung von Reststoffen als Werkstoffe und macht auf das unausgeschöpfte Potenzial von Abfallmaterialien aufmerksam. Die Ausstellung ist eine Kooperation des Gewerbemuseums Winterthur mit dem Material-Archiv der Zürcher Hochschule der Künste.



Text: Christine Läubli unter Verwendung der Medieninformation des Gewerbemuseums


Infos:

Blut & Staub

1. März bis 1. September 2024

Gewerbemuseum Winterthur, Kirchplatz 14, 8400 Winterthur

Öffnungszeiten:

Dienstag bis Sonntag 10 – 17 Uhr

Donnerstag 10 – 20 Uhr

Montag geschlossen


Als Ergänzung zur Ausstellung kann gleich nebenan im Material-Archiv gestöbert werden. Ausserdem ist bis zum 12. Mai 2024 «Perfectly Imperfect – Makel, Mankos und Defekte» zu sehen. Das Publikum ist eingeladen mitzumachen: Mit welcher funktionalen oder gestalterischen Lösung arrangieren wir uns täglich neu? Was nutzen wir anders als vorgesehen, sind mit dem Ergebnis aber höchst zufrieden? Das Gewerbemuseum sammelt kurzfristige oder bewährte Provisorien, Umnutzungen und neu gedachten Funktionen.

 

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