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Johanna Morel von Schulthess: Raum-Gewebe

Während rund zwei Jahrzehnten lagerte im Keller der Textilkünstlerin Johanna Morel von Schulthess ein Schatz. Die sorgfältig verpackten Kunstgewebe waren zwischen den 1970ern bis Mitte der 1990er Jahren entstanden. Als die Künstlerin die Pakete öffnete und durchsah, staunte sie selber ob der Vielzahl und Vielfältigkeit ihrer Objekte und Gewebe. Gleichzeitig erinnerte sie sich, wie gut die Arbeiten dokumentiert waren. Mit ersten Texten und Bildern besuchte sie Fritz Franz Vogel, den sie als vielseitigen und kreativen Buch-Gestalter kannte. Schnell vereinbarten die beiden, mit dem Material ein Buch herauszugeben. Erst wollte Johanna Morel von Schulthess ihre Ideenpläne und Skizzen nicht veröffentlichen, doch sie liess sich davon überzeugen, dass Vorarbeiten interessante Einblicke in die Werkentstehung ermöglichten. Das Buch allein machte wenig Sinn, und so präsentierte Fritz Franz Vogel vom 9. bis zum 31. Oktober 2021 einen Teil der Arbeiten in der Limmat Hall in Zürich. Da nicht alles Platz fand, gestaltete die Textildesignerin Andrea Buck eine Diashow, in der auch alle anderen Werke von Johanna Morel von Schulthess bestaunt werden konnten. Ausserdem hatte sich Andrea Buck von einigen Gewebedetails zu einer edlen Stoffkollektion inspirieren lassen, von der in der Ausstellung ebenfalls Kostproben zu sehen waren. Johanna Morel von Schulthess wurde in Zürich geboren. 1968 zog sie mit ihrem Mann, einem Arzt, nach Südafrika. Nach zwei Jahren in Ost-Transvaal übersiedelte die Familie nach Boston. In den USA lernte Johanna Morel von Schulthess fundiert zu weben. Sie begeisterte sich für die vielfältigen Möglichkeiten auf dem Webstuhl und schloss Freundschaft mit anderen Textilkünstlerinnen. Zurück in der Schweiz eröffnet sie 1972 in Kilchberg am Zürichsee ein Atelier und arbeitete fortan als freischaffende Künstlerin. Zunächst aber fühlte sie sich in der Heimat in ihrem Schaffen mit den neuartigen Webtechniken isoliert und unverstanden. Erst die Biennalen in Lausanne machten ihr die europäische und internationale Textilkunst sichtbar; vor allem faszinierten sie dreidimensionale Textilgebilde aus den USA und Osteuropa. Nach einem harten Schicksalsschlag studierte Johanna Morel von Schulthess Kunstgeschichte und schloss 1997 mit einer grossen Monografie über die Webkünstlerin Elsie Giauque ab. Öffentliche Beachtung fand die Künstlerin in der Region Zürichsee, im Übrigen entstand ihr Werk in der Stille. Mit dem Wissen, das sich Johanna Morel von Schulthess in Amerika angeeignet hatte, konnte sie «aus dem Vollen schöpfen». Die anfänglich dichten Wandgeweben wurden zunehmend transparenter. Die Weberin verliess die vom Webstuhl vorgegebenen rechteckigen Dimensionen und fand zu freien, asymmetrischen oder sich verjüngenden Formen. Ihre Objekte, Skulpturen und Installationen traten aus der Fläche heraus in den Raum. Fast alle Werke entstanden auf einem zwei Meter breiten Webstuhl mit 12 Schäften und ebenso vielen Pedalen – einer Massanfertigung der Schweizerischen Webstuhlmanufaktur Arm. Auf den beiden Kettbäumen, mit dem er ausgestattet war, konnte Johanna Morel von Schulthess unterschiedliche Kettgarne aufbäumen, was für mehrschichtige Gewebe praktisch war. Mit diesem technischen Hilfsmittel war es Johanna Morel von Schulthess möglich, ihre Ideen adäquat umzusetzen. Allerdings war es anstrengend, grosse Arbeiten ohne Schnellschuss zu weben, vor allem, wenn ungewöhnliche Materialien zum Einsatz kamen. Immer wieder sind im Werk der Textilkünstlerin Elemente zu entdecken, die man gemeinhin nicht mit Geweben in Verbindung bringt. Neben Fundstücken wie Federn oder Muscheln verwendete Johanna Morel von Schulthess auch Keramiken oder Perlen. In Amerika, Persien und feilschend auf dem indischen Markt beschaffte sie sich glänzende Metallfäden. Bis 1982 hatte die Webkünstlerin nur mit Naturmaterialien gearbeitet, doch dann entdeckte sie den Fischersilk und begann mit ihm, transparente Gewebe auszuloten. Als Bindetechnik bot sich die Dreherbindung an, mit der sie auch trotz dicken Schussfäden lichtdurchlässige Gewebe gestalten konnte: Man verdreht jeweils zwei oder mehr Kettfäden ineinander, legt einen Schuss ein, verdreht die Kettfäden in die andere Richtung und schiesst den nächsten Querfaden. Weil sich die Schüsse wegen der Kettverdrehungen nicht dicht aneinander anschlagen lassen, entsteht eine stabile Lücke und Transparenz im Gewebe. Nach einem Traum, in dem Johanna Morel von Schulthess vereiste Seidenfäden gesehen hatte, kam sie auf die Idee, Seidengarne in Medizinal-Schläuche einzulegen, diese in harte Nylongarne einzuweben und die Seide stellenweise frei fallen zu lassen. Die einzigartigen, luftigen Gewebe hingen oft frei im Raum, manchmal waren zwei wie ein Diptychon durch die zarten Fäden verbunden. Je nach Standpunkt sah der Betrachter durch die Transparenz und Bewegung der Gewebe immer wieder neue Bilder. Das Werk von Johanna Morel von Schulthess beinhaltet viele Elemente: die Farben und Muster Afrikas und des präkolonialen Amerikas; die Bauhauskunst, welche Anni Albers und andere in den 1930er Jahren in die USA gebracht hatten; die Weberei der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich vom starren Viereck des Gewebes befreite und den Raum eroberte – und die ganz persönliche Welt der Johanna Morel von Schulthess, die eigenständige, berührende und überraschende Arbeiten entstehen liess. Zur Ausstellung ist ein prächtiges Buch erschienen: Johanna Morel von Schulthess: Raum-Gewebe, Mein Textiltagebuch Verlag Scheidegger & Spiess 2021, 264 Seiten, 24,5 x 30 cm, 360 farbige und 16 sw Abbildungen, gebunden, Fr. 65, Euro, ISBN 978 3-03942-064-3 In diesem Link stellt Fritz Franz Vogel Johanna Morel von Schulthess in einem Interview vor: https://youtu.be/gq1hOx9DxGk Text und Fotos: Christine Läubli



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