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Selina Gasser in Mexiko

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Typische Bauweisen der Kirchen und Häuser. Viele Häuser sind mit politischen und / oder traditionellen Murales (Graffitis) bemalt.
Typische Bauweisen der Kirchen und Häuser. Viele Häuser sind mit politischen und / oder traditionellen Murales (Graffitis) bemalt.

Hier ist ein kleiner Einblick in meine Erlebnisse während des Kunstaustauschprojekts in Oaxaca/Mexiko (Juni-Dezember 2024), organisiert durch Atelier Mondial der Christoph Merian Stiftung:

Mit einer guten Portion Neugier, Tatendrang und Respekt bin ich Mitte Juni 2024 spät abends in Oaxaca angekommen. Die ersten Tage habe ich ruhig angehen lassen und vor allem mit dem Erkunden des Stadtzentrums und Ausfindigmachen von Workshops und Textilorganisationen verbracht. Als Ausgangslage für ein mögliches textiles Tagebuch habe ich bunte Tüllreste aus Basel mitgebracht und es hat sich rasch herausgestellt, dass das eine gute Idee war. Die bunten Häuser und Guelaguetza-Fähnchen in den Strassen hatten ähnliche Farben, und schnell ist schon die erste Idee für eine Arbeit entstanden.


«nueve nuevas». Inspiriert von den bunten Fähnchen in den Strassen Oaxacas
«nueve nuevas». Inspiriert von den bunten Fähnchen in den Strassen Oaxacas

Über neun Wochen lang habe ich jeden Tag eine Farbe des Tages gewählt (eine der Tüllfarben) und sie mit einem willkürlich gewählten Stickfaden aneinandergenäht. Immer sieben Stück. Nach neun Wochen hatte ich kein Bedürfnis mehr, Tagebuch zu führen und die Arbeit fortzusetzen. Die ersten Wochen habe ich auch noch fleissig versucht, mein Ursprungsprojekt aufzugleisen und jede Begegnung oder jeden Ort irgendwie dokumentiert und die jeweiligen Armspannen der Entitäten zu messen. Schnell habe ich jedoch gemerkt, dass es sich je länger, je mehr falsch anfühlt, als aussenstehende Europäerin zu versuchen, Geschichten und Entitäten in Oaxaca aufzunehmen und in ein Kunstwerk zu transformieren. Das sollte eigentlich eine Person aus Oaxaca machen, die mit den Geschichten und Orten wirklich aufgewachsen und vertraut ist. Sowieso haben sich schnell ganz viele neue Ideen entwickelt, die mehr mit mir zu tun hatten/haben.

 

«transform.into.ition», Rückengurtgewebe. Detail
«transform.into.ition», Rückengurtgewebe. Detail

Gleich in der zweiten Woche konnte ich am ersten Workshop im Textilmuseum teilnehmen. Ich habe Tierchen aus der Sierra Sur gestickt und dabei eine bisher völlig unbekannte Liebe entdeckt. Das Sticken hat mich dann auch die ganzen Monate in Oaxaca begleitet und wurde zweitweise sehr intensiv betrieben. Ich habe vom ersten Moment an in Oaxaca eine tiefe Verbundenheit zu mir und zur Natur gespürt, obwohl es nicht einfach war, ohne eigenes Auto wirklich in die Natur ausserhalb der Stadt zu fahren.











Monte Alban, Zapoteken Kultur bei Oaxaca
Monte Alban, Zapoteken Kultur bei Oaxaca

Der Besuch des Monte Alban und des Prähispanischen Museums mit den Tonfiguren und ihren sehr präsenten Bauchnabeln haben mich wieder einmal zum Nachdenken über die Verbindung von uns Menschen mit dem Planeten/der Erde und dem Himmel/der Luft als Lebensgeber angeregt. Meine erste Vermutung, dass die geöffneten, grossen Bauchnabel die Verbindung vom Kind zur Mutter und die damit verbundene Nahrungsabhängigkeit darstellt, hat sich Monate später im Anthropologischem Museum in Mexiko-Stadt bestätigt. Das Weibliche und die Fähigkeit, neues Leben zu gebären, hatte bei allen prähispanischen Volksgruppen einen hohen Stellenwert. Die Erde, die neue Pflanzen gebiert und somit als Nahrungsgeberin für die auf ihr lebenden Lebewesen dient, wurde verehrt. Diese Gedanken haben mich zu einer kleinen abstrakten, gestickten Serie mit Nabelschnüren, Wurzeln, Stämmen und Kronen von Bäumen inspiriert. Die Serie ist jedoch weit entfernt davon, beendet zu sein, und ich hoffe, dass ich während meiner Reise durch Südamerika noch etwas daran weiterarbeiten kann.


Färberküche bei Hilos Flojos. Workshop Tintes Naturales y Mordentes
Färberküche bei Hilos Flojos. Workshop Tintes Naturales y Mordentes

Anfangs Juli durfte ich bei Carolina von Hilos Flojos zwei spannende Kurse zum Thema «Tintes Naturales y Mordentes» besuchen. Also Färben mit natürlichen Färbemitteln und Modifikationen durch Beizmittel. In diesen knapp 1.5 Wochen haben wir Baumwollgarne, kleine Baumwoll- und Leinenstöffchen und Agavefasern in über 40 unterschiedlichen Farben gefärbt. Durch die Vorbehandlung der Fasern mit zum Beispiel Alaun und Soja oder die Nachbehandlung mit zum Beispiel Eisen und Zitronensäure haben sich mit nur vier Färbemitteln (Cochenille, Brasilholz, Tagetes, Indigo) eine Vielzahl an Farben erstellen lassen, jede ein Unikat. Diese Stöffchen und Garne wurden rasch zum Ausgangsmaterial vieler der Arbeiten, die in Oaxaca entstanden sind. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Verhaltensweisen in einem anderen Land und den Erwartungen an das andere Land, hat mich immer wieder demütig gemacht, was ich bisher in meinem Leben erleben durfte und was so oft als selbstverständlich angenommen wird.

Nach etwa drei Wochen habe ich bei einem Sprachaustausch einen Mexikaner kennengelernt, mit dem ich bis zum Ende meines Aufenthaltes eine sehr intensive Freundschaft/Beziehung/künstlerische Zusammenarbeit erleben durfte. So spannend der Austausch war, so schwierig waren oft die kulturellen, sprachlichen und wohl teils auch altersbedingten Missverständnisse und Differenzen. All dies hat mich jedoch angehalten, auch auf dieser sehr persönlichen Ebene zu reflektieren und alte Verhaltensmuster zu überarbeiten. Was schlussendlich zur ersten Arbeit mit den gefärbten Stöffchen geführt hat. „Pastpresentfuture“. Gleich und doch ständig neu und anders.


«Pastpresentfuture». Gefärbte Stoffstücke aus dem Workshop bei Hilos Flojos. Detail
«Pastpresentfuture». Gefärbte Stoffstücke aus dem Workshop bei Hilos Flojos. Detail

Relativ schnell war klar, dass wir gemeinsam eine Ausstellung organisieren wollen, und wir haben uns unter anderem mit Guadalupe Salgado (Austauschkünstlerin aus Oaxaca, war 2023 im Atelier Mondial in Basel) und mit Daniel Brena von Centro de Arte San Agustin Etla (CaSa) in Verbindung gesetzt. Da Guadalupe im September und Oktober eine Residency in Mallorca absolvierte, konnten wir ihr Studio mieten. Ebenfalls von Anfang an hat uns Babel begleitet. In den unterschiedlichsten und seltsamsten Augenblicken wurden wir mit der «Turm zu Babel» Geschichte konfrontiert, was irgendwie kein Zufall sein konnte. Es wirkte und wirkt immer noch wie ein Zeichen, sich über sprachliche, kulturelle oder politische Differenzen hinwegzusetzen und mit dem Herzen anstelle des Kopfs zu denken, fühlen, sehen und hören. Das ist so viel einfacher gesagt als getan und ist uns nur bedingt gelungen, so dass wir kurzzeitig im Oktober wieder getrennte Wege gingen.


“to be continued”. Inspiriert von den Quipus der Andenregionen
“to be continued”. Inspiriert von den Quipus der Andenregionen

Nebst dem Organisieren und Entwickeln der gemeinsamen Ausstellungen habe ich konstant an den unendlichen Ideen, die Oaxaca in mir produziert hat, gearbeitet. Ende Juli habe ich in einem Workshop im Textilmuseum eine Designerin/Künstlerin aus Chile kennengelernt, die mich etwas über die Zählschnüre der Anden «Quipus» gelehrt hat. Von den Quipus habe ich schon einiges gehört, aber mich in Europa nie weiter damit beschäftigt. Inspiriert von den Quipus ist eine zweite Arbeit aus Agavefasern und den gefärbten Garnen entstanden. Ebenfalls Reflexionen über mein bisheriges, mein aktuelles und mein zukünftiges Leben „…to be continued…“ Zur selben Zeit, als ich etwas über die Quipus lernen durfte, hat sich eine Residency Möglichkeit in Cusco/Peru für Januar 25 eröffnet … beworben und bekommen. Meine Recherche zu den Quipus kann also am Ursprungsort weitergeführt werden.

Mitte August hat sich der zweite Todestag meines Bruders gejährt und die Auseinandersetzung mit der Trauer an einem mir eigentlich fremden Ort fern von Freunden und Familie war sehr befreiend, traurig natürlich, aber hat viel geöffnet, und ich konnte unterdrückte Gefühle zulassen und loslassen. Was mich zur nächsten Arbeit inspiriert hat. Einen kurzen Brief an meinen Bruder über meine Gefühle mit einem textilen Code. „dubistmirnichtwurst“. Wiederum mit den gefärbten Garnen, Hölzchen vom Markt und Ton als Referenz zum weitverbreiteten Töpferhandwerk in Oaxaca.


Rückengurtweben bei t.e.x.e.r.e in El Tule, Nähe Oaxaca
Rückengurtweben bei t.e.x.e.r.e in El Tule, Nähe Oaxaca

Die ersten zwei Monate habe ich allgemein mit dem Besuch vieler Workshops im Textilmuseum, bei Hilos Flojos oder t.e.x.e.r.e. verbracht. Bei t.e.x.e.r.e. in El Tule durfte ich die Technik des Rückengurtwebens erlernen, was ein lang gehegter Wunsch war und in mir wiederum einige neue Ideen hervorgerufen hat. Jedoch hat mir die Zeit gefehlt, um diese bisher umzusetzen. Vielleicht in Cusco, da das Hauptaugenmerk bei dieser Residency ebenfalls auf den Gewebetechniken der Anden liegt.

 








Nachtleben in Oaxaca
Nachtleben in Oaxaca

An den Wochenenden habe ich unglaublich viel Zeit in den Cantinas mit Mezcal und Bier trinken und zu Cumbia tanzen verbracht. Als eine Hommage an diese Zeit und an die Tatsache, dass die Agave als eine Gottheit angesehen wird, ist die Arbeit „agave“ entstanden. Den September habe ich vor allem in Guadalupes Studio verbracht und mich auf meine Arbeit und Ausstellungen mit Camilo fokussiert. Im Studio wollten wir jeweils eigene Arbeiten zeigen und in der CaSa eine Arbeit zum Thema Babel gemeinsam vor Ort entwickeln.

 






CaSa (Centro de Arte, San Augustina Etla). Ehemalige Baumwollweberei von Atelier Mondial
CaSa (Centro de Arte, San Augustina Etla). Ehemalige Baumwollweberei von Atelier Mondial

Durch unsere Trennung Ende September habe ich kurzerhand die Möglichkeit auf zwei Einzelausstellungen erhalten und diese auch organisiert. Die Ausstellung im Studio Ende Oktober wurde zu einem Mix aus Open Studio/Ausstellung mit dem Titel „inner / outer movement“, bei der die bis dahin entstandenen Stickereien sowie „agave“, „nueve nuevas“, „miniti“, „babelitas“, „dark cloud“, „tranform.into.ition“ gezeigt wurden. Alles Arbeiten, die entweder direkt oder indirekt mit dem Beenden der Beziehung zu tun haben oder ganz allgemein von der Zeit und den Techniken in Oaxaca inspiriert sind. Nebenbei habe ich intensiv an den zwei weiteren Arbeiten für die Ausstellung in CaSa gearbeitet. Die ich dann thematisch weg von Babel hin zu „dis/connecting identity“ gepolt habe, und bei denen ich Arbeiten mit den bei Carolina im Juli gefärbten Garnen gezeigt habe. Diese fünf Arbeiten könnten eigentlich als Serie gesehen werden, auch wenn sie es nicht direkt sind. Aber die thematische Auseinandersetzung und Materialität binden sie stark aneinander. Die Ausstellung in CaSa fand Mitte November statt und ich konnte dort auch eine Woche wohnen und dem ständigen Stadtlärm entfliehen.


Konferenz in Hermosillo, Sonora. Gegen Gewalt an Frauen und Kindern. Brettchenwebshop mit jeweils zwei verbundenen und gelichzeitig webenden Personen
Konferenz in Hermosillo, Sonora. Gegen Gewalt an Frauen und Kindern. Brettchenwebshop mit jeweils zwei verbundenen und gelichzeitig webenden Personen

In einem Rückengurtkurs im Textilmuseum im August habe ich Eloisa, eine Dozentin für Psychologie und Textiles Handwerk und Feministin, kennengelernt, die mich für den 25. November nach Hermosillo in Sonora an ihre kleine Textilausstellung/Konferenz zum Thema Gewalt an Frauen und Kindern eingeladen hat. Es ging um eine Vernetzung von Ansätzen aus der Kunst, der Psychologie und der Juristik, wie man Gewalt sichtbarer machen kann und Erlebnisse durch textiles Handwerk verarbeitet werden können.

Nachdem ich im August (für Kinder, das war vielleicht ein Chaos) und September (für Erwachsene, das war toll) jeweils einen 3-tägigen Brettchenweb Workshop im Textilmuseum gegeben hatte, und ganz grundsätzlich voll in der Thematik drin bin, habe ich ihr ebenfalls einen solchen Workshop vorgeschlagen. Dabei wollte ich, wie bereits in Österreich ausprobiert, verschiedene Menschen durch Brettchengewebe miteinander verbinden und durch Anhängen neuer Ketten ein netzähnliches Konstrukt bilden. Morgens gab es zuerst einen öffentlichen Talk, bei dem ich netterweise Übersetzungsunterstützung einer Freundin aus Monterrey bekam. Sie half mir dann auch beim Workshop. Wir haben jeweils nur zwei Personen miteinander verbunden, da das viel Zeit gespart hat und sprachlich wäre es auch mit Übersetzerin etwas schwierig geworden, zu erklären, was ich genau wollte. Aber alle hatten Spass und Eloisa würde den Workshop in ähnlicher Form gerne an der Uni wieder mal anbieten. Und da ich meine Ideen gerne mit Interessierten teile, freue ich mich schon auf neue metaphorische und textile Verbindungen und Aufarbeitung im von viel Narco-Gewalt und Gewalt an Frauen und Kindern geprägten Norden Mexikos.


Wüstenlandschaft im Norden Mexikos bei Hermosillo
Wüstenlandschaft im Norden Mexikos bei Hermosillo

Die Geschichten von Betroffenen zu hören, hat mir gezeigt, dass ich im touristisch geprägten Zentrum Oaxacas ziemlich in einer Blase gelebt habe. Wodurch vielleicht viele spannende Begegnungen oder Erkenntnisse fernbleiben, aber ich dafür auch in keine brenzligen Situationen kam.

Während den ganzen Monaten habe ich mir nebenbei noch neue Ausstellungen und Residencies fürs 2025 und 2026 organisiert und fand es einfach grossartig, dass ich mir endlich mal richtig viel Zeit nehmen konnte, um mich nur auf mein Künstlerinnen Dasein zu konzentrieren. Kein Brot-Job, dem man nachgehen muss. Wenig Life-Admin Zeugs, das man erledigen sollte. Viel Zeit, um Neues zu entdecken, sich mit seinen Gedanken, Gefühlen und Unsicherheiten auseinanderzusetzen und daran zu wachsen. Künstlerisch wie auch persönlich hat mich dieses halbe Jahr in Mexiko enorm weitergebracht, und ich freue mich schon unglaublich fest darauf, dass ich zurück in Basel hoffentlich all diese Ideen noch vertiefen kann, die ich hier begonnen habe. Nun sauge ich jedoch erst mal noch die Landschaft, Kulturen und Traditionen in Argentinien, Chile und Peru auf und lasse Mexiko langsam sacken.

 

Steinbilder in Chitzen Itzà, Maya Kultur auf der Yukatan Halbinsel
Steinbilder in Chitzen Itzà, Maya Kultur auf der Yukatan Halbinsel

Ich bin sehr dankbar, dass ich mir die letzten Wochen meiner Mexiko-Zeit für Reisen innerhalb Mexikos freigehalten habe. Landschaftlich, kulturell und auch städtebaulich unterscheiden sich der Norden und der Süden Mexikos gewaltig. Mexiko-Stadt ist sowieso nochmals eine andere Geschichte. All diese Eindrücke, Begegnungen, Freundschaften und Traditionen, die ich kennenlernen und erfahren durfte werden noch sehr lange nachhallen, da bin ich mir sicher. Ich war mich nicht immer sicher, ob ich nach Oaxaca zurückkehren werde, aber nun bin ich mir eigentlich sicher, dass ich eines Tages wieder komme. Ich hätte nie gedacht, dass ich innerhalb dieser sechs Monate so unglaublich viele unterschiedliche und doch zusammenhängende Arbeiten herstellen, oder dass ich zwei Einzelausstellungen organisieren würde. Ich bin zutiefst dankbar für diese einmalige Chance, die Atelier Mondial mir geboten hat, und die ich mit allen Ups und Downs so gut es ging genutzt habe. Die 35 Garne, die mein Alter und meine Erlebnisse in Oaxaca repräsentieren, begleiten mich nach Basel und wer weiss noch wohin.

 

Text und Fotos: Selina Gasser

 
 
 

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