Diese kleine Buch kommt völlig ohne Abbildungen aus – am Ende hat die Leserin aber eine Vielzahl von Bildern im Kopf und möglicherweise eine neue Sicht auf die textile Geschichte.
Clare Hunter ist eine schottische Textilkünstlerin, Kuratorin, Fahnenstickerin, die textile Techniken oft in sozialen Projekten einsetzt. In ihrem Buch erzählt sie die Geschichte der Textilkunst sehr persönlich, oft poetisch und aus einem anderen Blickwinkel als «normale» Kunsthistoriker, die ja selber eher selten textile Künste ausüben. Im Vordergrund steht das Sticken. In 16 Kapiteln begegnen wir unvergesslichen textilen Kunstwerken, und natürlich auch Menschen aus allen Zeitaltern, die alle fasziniert waren von textilen Gestaltungsmitteln.
Hier sind einige Beispiele aus dem Buch:
Der Teppich von Bayeux ist ein 0,52 x 68 Meter langes Meisterstück aus dem Mittelalter, das die Eroberung Englands im Jahr 1066 in unzähligen Szenen bildhaft macht. Neben der Anerkennung der feinen Stickerei wundert sich Clare Hunter darüber, dass auf dem Teppich – und auch während der langen Deutungsgeschichte – Frauen kaum vorkommen, obwohl sie die Stickerei vermutlich ausgeführt haben …
https://www.archaeologie-online.de/artikel/2020/der-teppich-von-bayeux/
Die schottische Königin Mary Stuart (1542 – 87) war eine begeisterte Stickerin, die das Handwerk in ihrer Jugend in Frankreich gelernt hatte. Das Sticken hat ihr wohl auch die 18 Jahre währende Zeit als Gefangene von Elisabeth I wesentlich verkürzt!
https://www.vam.ac.uk/articles/prison-embroideries-mary-queen-of-scots
Der ehemalige Fischer John Craske 1881 – 1943) konnte krankheitshalber nicht mehr arbeiten. Er begann zu malen, was er kannte: Meer, Küste, die Vegetation am Strand, das Leben als Fischer, aber auch jenes als Kriegsteilnehmer. Später entdeckte er das Sticken. Mit dieser Technik brachte er feinere Texturen hervor und konnte sich noch besser ausdrücken. Seine grösste Arbeit war «The Evacuation of Dunkirk».
https://www.derehamhistory.com/john-craske---fisherman-and-artist-1881-1943.html
Elizabeth Fry (1780 - 1845) reformierte die prekären Zustände in den Gefängnissen ihrer Zeit und regte die Insassen zum Nähen und Sticken an. Ein Jahrhundert später begannen weibliche Gefangene in Singapur, ihre Gedanken und Gefühle mittels der Textilkunst auszudrücken. Die meisten Frauen stammten aus privilegierten Verhältnissen und litten nun unter der prekären Situtation im Changi Prison. Eine dieser Frauen war Ethel Mulvaney, die ihre Mitinsassinnen dazu anregte, mittels Quilts mit den Männern in Kontakt zu treten. Die Frauen verwendeten Motive, deren Bedeutung die japanischen Gefangenenwärter nicht kannten, so dass die Quilts leicht aus dem Gefängnis hinausgeschmuggelt werden konnten.
https://www.canadashistory.ca/explore/women/women-in-ww2-prison
1975 übernahmen die Kommunisten die Macht in Laos. Tausende von Hmong flüchteten von Laos nach Thailand. Im Flüchtlingslager gestalteten die Frauen ihre Geschichte mit der Nadelkunst, die sie noch von zu Hause kannten. «Crossing the Mekong” zeigt die gefährliche Überquerung des Mekong in kleinen Schiffen.
https://www.kshs.org/kansapedia/hmong-story-cloth/10367
Im 18. Jahrhundert «malten» drei Marys in England mit Fäden malereinahe Bilder. Mary Knowles nutzte die neue Idee, um realistische Porträts herzustellen, Mary Delany gestaltete botanische Sujets und Mary Linwood nahm sich alte Meisterwerke vor.
Zu dieser Zeit unterstützten verschiedene Monarchinnen Europas weibliche Untertaninnen, die sich künstlerisch betätigten. Die Königinnen liessen sich porträtieren oder gaben andere Aufträge. Alle drei Marys erhielten die Aufmerksamkeit der englischen Königin Charlotte, am meisten aber Mary Delay, welche die königlichen Kinder in Botanik unterrichten durfte und im Alter gar ein Sommerhaus erhielt.
https://www.trc-leiden.nl/trc-needles/people-and-functions/artists-designers-and-embroiderers/knowles-mary-1733-1807
https://de.wikipedia.org/wiki/Mary_Linwood
https://de.wikipedia.org/wiki/Mary_Delany
Text: Christine Läubli
Buchinformationen: Clare Hunter: Threads of Life, Verlag Hodder and Stoughton 2020, 320 Seiten, CHF 19.80, ISBN 978-1-4736-8793-6 in englischer Sprache
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